Im digitalen Klassenzimmer

 

Deutschlands Schüler sind nur Mittelmaß,
wenn es um die Nutzung von Computern geht.
Das klingt besorgniserregend.
Warum jedoch soll das eine schlechte Nachricht sein?
Ein Plädoyer für den analogen Unterricht

 

von Arne Ulbricht

 

Deutschlands Achtklässler sind, wenn es um Computer-Nutzung geht, im weltweiten Vergleich nur Mittelmaß, sagt eine Studie, die diese Woche veröffentlicht wurde. Kommentiert wurde das meist mit besorgtem Ton: Wieder einmal droht Deutschland abgehängt zu werden. Man kann die Sache aber auch andersherum sehen: Das volldigitalisierte Klassenzimmer wäre ein Horror.

Projekte in dieser Richtung gibt es genügend. In Hamburg sollen an mehreren Schulen Tafeln, Bücher und Hefte durch Smartphones, Tablets und Laptops ersetzt werden. Damit werde individuelles Lernen gefördert heißt es, auch wirke die Erlaubnis motivierend, die „privat genutzten Smartphones“ im Unterricht verwenden zu dürfen. In anderen Bundesländern gibt es so genannte iPAd-Klassen, in denen die Schiefertafel ausgedient hat.

Warum hinterfragt das eigentlich keiner? Selbst das vermutlich einleuchtendste Argument, dass digitalisierter Unterricht heutige Schüler motiviert, ist problematisch. Soll man im Deutschunterricht nicht mehr den Film „Woyzeck“ analysieren, sondern „Fack Ju Göhte“, in Englisch die Schüler mit Shakespeare verschonen und Shades of Grey lesen, nur weil die meisten Schüler das lustiger finden? Bei Schülern, deren erste und letzte Aktion eines jeden Tages darin besteht, aufs Handy zu gucken, sollte das einmal keine Rolle spielen. Wenn es für Schüler Alltag wird, ihr Privatleben auf Facebook zu veröffentlichen, wenn sie morgens nebeneinander im Bus sitzen und, statt miteinander zu reden, sich Kurznachrichten schicken, dann ist es gut, wenn der Unterricht ein smartphonefreier Raum ist.


Auch das Argument vom individualisierten Lernen zieht nicht. Gemeint ist damit, dass leistungsschwächere Schüler mehr Zeit bekommen und leistungsstärkere Schüler gefordert werden; natürlich geht das auch mit Hilfe von Lernprogrammen, die immer neue Aufgaben per Klick oder Touch bereitstellen. Man kann aber das Wissen der stärkeren Schüler viel besser festigen, wenn sie ihren Mitschülern helfen. Man kann die guten Schüler auch zu Hause zu weiteren Themen recherchieren lassen – ob übers Internet oder gar in richtigen Büchern.

Denn abgesehen von bestimmten Lernphasen ist Unterricht ein Mannschaftssport. Der Klassenverband ist die Mannschaft, der Lehrer der Trainer. Die Mannschaft sollte zusammen ein Ziel erreichen. Deshalb sollte in Klassenverbänden nicht ständig individualisiert gelernt werden. Und um die Genies müssen wir uns keine Sorgen machen: Die Spitzenmanager, Klinikchefs und Professoren von heute haben schließlich auch ihren Weg gefunden.

Es gibt schon heute Schulen, die das Lernen digitalisiert haben. Die Kahn-Akademie, gegründet von dem Amerikaner Salman Kahn, setzt auf den Einsatz von Videos, die man auf Youtube anschauen kann; die Schüler können so nach ihrem je eigenen Rhythmus lernen, der Lehrer wird zum Berater. Steve-Jobs-Schulen arbeiten im Unterricht konsequent mit iPads, in Holland gibt es sie bereits. Geplant war, die Schüler ab vier Jahren auch im Homeoffice lernen zu lassen. Dieser Wunsch ist allerdings abgelehnt worden. Soll dies das Ziel der Digitalisierungs-Offensiven sein?

In Deutschland findet immerhin Laptop- beziehungsweise iPad-Unterricht im Klassenverband statt. Die Schüler arbeiten mit den Geräten in Klassenräumen, und für alle Fächer gibt es Lehrer. Aber wenn die Schule den Schülern zeigt, dass man mit jederzeit griffbereiten Geräten alles kann – wann werden sie die bloße Existenz der Lehrer infrage stellen? Wann wird das Kürzel SOL, das eigentlich für „selbstorganisiertes Lernen“ steht, für „Schule ohne Lehrer“ stehen?


Es mag verlockend sein, sich im Homeoffice von Lehrvideos oder auf einer genial konzipierten Matheseite Mathe erklären zu lassen, wenn der Mathelehrer es nicht gut kann. Dennoch bedeutet der Mathelehrer für das Leben eines Heranwachsenden mehr als die beste Mathe-App. Der Lehrer ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein iPad aus Aluminium und Glas. Er kann Schülern helfen, die mitten im Unterricht zu heulen beginnen, weil sie etwas nicht verstehen, sie der Liebeskummer plagt oder die bevorstehende Scheidung der Eltern. Ein Smartphone bleibt da ungerührt, und ein Lehrer, der sich per Skype meldet, hilft auch nicht wirklich weiter. Und Schließlich: Man sollte, Digitalisierung hin oder her, auch mit Menschen zusammenarbeiten lernen, mit denen man sich nicht immer gut versteht. Das passiert später im Arbeitsleben oft genug.
Die totaldigitalsierte Zukunft ist nicht wünschenswert – so wenig, wie natürlich eine entdigitalisierte Schule eine Lösung wäre. Es spricht überhaupt nichts gegen Projektarbeiten im Laptopraum. Ein eigener Internet-Unterricht böte sich wie kaum ein anderes Fach für englischsprachigen Unterricht an. Man könnte dort lernen, wie man recherchiert, wie es sich mit dem geistigen Eigentum heruntergeladener Fotos verhält, und vieles mehr.

In erster Linie sollte die Schule aber Alternativen zum dauerhaften Internetkonsum aufzeigen. Das ist viel Arbeit. Aber leugnet wirklich jemand ernsthaft, dass viel zu viele Schüler viel zu viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringen? Zu viele Schüler ergooglen sich Wissen binnen Sekunden und vergessen diese Art Wissen binnen Sekunden wieder, lassen sich Texte vom Rechtschreibprogramm ihres Vertrauens korrigieren, statt den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.

Die Schule sollte ein Raum sein, in dem man auch ohne digitale Hilfe lernen kann. Lehrer sollen Schüler motivieren, sie neugierig auf das Neue machen – und auch mal in einem emotionalen Notfall für sie da sein. Auch die nächsten Generationen werden Lehrer brauchen, die Menschen und keine Maschinen sind. Und wer Lehrer nicht durch Maschinen ersetzt sehen will, sollte sich gegen die Auswüchse der Digitalisierung wehren.


Arne Ulbricht, 42, ist Lehrer und Autor


aus der Süddeutschen Zeitung vom 22./23.11.2014,
hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors

Homepage des Autors: www.arneulbricht.de

Vorstellung seines Buchs „Schule ohne Lehrer?“ (Webseite)